Frühestes Mitglied der menschlichen Familie
Ein Leben lang ist es her, dass der südafrikanische Anatom Raymond Dart auf einen geheimnisvollen Schädel in einer Kiste mit Fossilien stieß, die ihm von einem Kalksteinbruch im Transvaal geschickt worden war. Der Schädel stammte von irgendeinem jungen Primaten, und Dart kam zu der Überzeugung, dass es ein Relikt eines Zwischenstadiums in der menschlichen Entwicklung - ein 'Affen-Mensch' oder 'fehlendes Glied' - war.
Er nannte ihn Australopithecus africanus, den ‘Südlichen Affen von Afrika’, schrieb die Entdeckung auf und schickte sie an die Zeitschrift Nature. Sie wurde trotz starker Opposition veröffentlicht.
Keine der in London ansässigen Behörden jener Tage schenkte dem Bericht von einer relativ unbekannten Arbeit in einem obskuren Teil der Welt Glauben. Sie waren überzeugt, dass Dart einen versteinerten Affen gefunden hatte.
Dart behielt jedoch schließlich Recht und Australopithecus africanus steht am Anfang der Wissenschaft, die jetzt als Paläoanthropologie bekannt ist - das Studium von Ursprung und Entwicklung des Menschen.
Darts's Entdeckung kam zu einer Zeit, als alles, was wir vom menschlichen Ursprung wussten, der menschenähnliche Neanderthaler, der 'Java Mensch' (später Homo erectus) und der Piltdown Mensch (später als Fälschung entlarvt) waren.
Nach Dart kamen solche Wissenschaftler wie Robert Broom und Louis Leakey. Mit Kollegen und Nachfolgern entdeckten sie eine Vielzahl von Affen-Menschen und Fast-Menschen, die in Süd- und Ostafrika vor fünf bis zwei Millionen Jahren lebten, bevor dann voll entwickelte Mitglieder unserer eigenen Art, Homo, zum ersten Mal auftraten.
Kürzlich veröffentlichte die Zeitschrift Nature einen Bericht, der dem von Dart ebenbürtig ist: ein merkwürdiger, neuer Schädel, von einer unerwarteten Fundstelle, vorgestellt von einem wenig bekannten Wissenschaftler, der erhebliche und weithin unvorhersehbare Konsequenzen für unser Verständnis des menschlichen Ursprungs haben wird.
Lücke geschlossen
Der neu entdeckte Schädel ist zwischen sechs und sieben Millionen Jahre alt und stellt das früheste Mitglied der bis jetzt entdeckten menschlichen Familie dar. Die nächst ältesten Hominiden kommen aus Äthiopien und, etwas umstritten, aus Kenia, und sind zwischen fünf und sechs Millionen Jahre alt. Ein Hominid ist ein Mitglied der menschlichen Familie, er unterscheidet sich von Schimpansen und anderen Affen.
Ähnlich wie der Fund von Dart vor 77 Jahren, macht die neue Entdeckung Schluss mit der bisherigen Vorstellung, indem sie an einem Ort stattfand, wo nur wenige gesucht hatten: dieses Mal im unwirtlichen Herzen von Nord-Tschad, in den südlichen Ausläufern der Sahara. Ab hier unterscheiden sich die Geschichten.
Die Entdeckung von Dart traf auf Skepsis. Der Schädel, der von Michel Brunet und Patrick Vignaud von der Universität von Poitiers, Frankreich und von ihren Kollegen von der internationalen Mission Paleoanthropologique Franco-Tchadienne (MPFT) gefunden wurde, wird dagegen mit Beifall begrüßt.
Dan Lieberman von der Harvard Universität, einer der Paläontologen, die das Fossil gesehen haben, sagt, dass es in dem Forschungsgebiet die Auswirkung 'einer kleinen Atombombe' hat. Ich möchte behaupten, dass es sich, soweit man sich erinnern kann, um die wichtigste Hominiden-Entdeckung handelt.
Die Kurzbezeichnung 'Toumaï' - ein lokaler Name für ein Kind, das gefährlich nah am Anfang der trockenen Jahreszeit geboren wird - steht für die Bedeutung des Schädels auf Grund seines Jahrgangs. Toumaï stammt von einem entscheidenden Abschnitt in der menschlichen Geschichte, über den praktisch nichts bekannt ist.
Vor zehn Millionen Jahren war die Welt voller Affen; vor fünf Millionen Jahren erscheinen die ersten brauchbaren Nachweise für Hominiden. Zwischen diesen beiden Abschnitten trennte sich die menschliche Abstammungslinie von der des Schimpansen. Und dennoch ist der gesamte Nachweis für die menschliche Entwicklung in dieser Zeitspanne ungemein spärlich - es handelt sich um wenige Fragmente, die in einen Schuhkarton passen.
Die Fülle der von Toumaï zu gewinnenden Informationen, auch bekannt als Sahelanthropus tchadensis, und eine damit verbundene Sammlung von Kieferknochen sollten unser Verständnis des menschlichen Ursprungs in einer noch nicht abzuschätzenden Weise erweitern.
Gesichtsfakten
Dieses kleine neue Gesicht aus der Vergangenheit enthält eine ungewöhnliche Mischung aus primitiven und fortschrittlichen Kennzeichen. Das Schädelvolumen von Toumaï ist sehr affenartig, aber seine oder ihre Eckzähne sind klein, mehr wie die eines Menschen. Toumaï hat vorstehende Augenbrauen in der Art, wie sie nur in unserer eigenen Art, Homo vorkommt.
Bedeutet das, dass Toumaï einen sehr alten und direkten Vorfahren von Homo darstellt, der die verschiedenen afrikanischen 'Affen-Menschen' aus der Zeit zwischen fünf und zwei Millionen Jahren umgeht, die in den letzten 70 Jahren entdeckt worden waren? Bernard Wood von der George Washington Universität in Washington, DC glaubt das nicht.
Wood vermutet, dass die Kombination der Eigenschaften von Toumaï ein kleines Beispiel für die sehr große und bisher unvermutete Verschiedenartigkeit der versteinerten Hominiden darstellt, wie sie uns auf unserem Weg in die Vergangenheit begegnen.
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