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Über Jahrzehnte haben Wissenschaftler daran gearbeitet, die einzelnen Bildpunkte aus Dutzenden von versteinerten Funden in Ost- und Südafrika in der Hoffnung auf ein genaues Abbild des menschlichen Ursprungs zusammen zu führen. Jetzt deutet eine neue Entdeckung im westlichen Zentralafrika darauf hin, dass sich das Gesamtbild möglicherweise radikal von dem bisher weithin akzeptierten unterscheidet. Ein Forschungsteam hat bei Ausgrabungen im nördlichen Tschad den gut erhaltenen Schädel und andere versteinerte Überreste eines, wie sie glauben, bisher unbekannten Hominiden oder frühen menschlichen Vorgängers geborgen, der vor sechs bis sieben Millionen Jahren lebte. Dieses Datum würde ihn zum ältesten bekannten Vorfahren der Menschen machen.
Der Fund hat unter den Wissenschaftlern deswegen für Aufgeregung gesorgt, weil er ein Fenster öffnet auf eine Periode nahe der Zeit, als Menschen und Affen sich von einem gemeinsamen Vorfahren auseinander entwickelten. So gut wie nichts ist über diese Periode bekannt, da die meisten menschlichen Fossilien beträchtlich jünger sind.
Nach Ansicht einiger Wissenschaftler, die nicht zum Forschungsteam gehörten, könnten verschiedene Aspekte der neuen Fossilien dafür sorgen, über einige grundlegende Theorien zum menschlichen Ursprung neu nachzudenken. In einer Stellungnahme in der Zeitschrift Nature, die über die Entdeckung in ihrer Ausgabe vom 11. Juli (2002) berichtete, sagte der Professor für Anthropologie Daniel Lieberman von der Harvard Universität, dass die neue Entdeckung "die Auswirkung einer kleinen Atombombe hat."
"Mit am wichtigsten von dem, was uns der Schädel zeigt, ist das Maß unseres Nichtwissens," sagte er in einem Telefoninterview. "Er deutet darauf hin, wie unterschiedlich die Hominiden in Afrika gewesen sein könnten, und zeigt zudem, dass eine Menge in Afrika passiert ist, was wir uns bisher nicht vorstellen konnten."
Lieberman sah sich den Schädel an und sagte dazu, wie einige andere Beobachter auch, dass er besonders durch die ungewöhnliche Mischung des Geschöpfs aus ursprünglichen und fortschrittlichen Merkmalen verblüfft wurde. Die Hirnschale ist z.B. schimpansenartig, aber das Gesicht, die Zähne und der ein wenig abgeflachte Kopf ähneln denen von Menschen.
"Am erstaunlichsten ist jedoch, dass die Gesichtsmerkmale so sind, wie wir sie bei der Gattung Homo in der Zeit vor mehr als 1,8 Million Jahren bisher nicht vorgefunden haben. Sie sind mehr Homo als Australopithecine," sagte er und bezog sich dabei auf die bekannteste Gruppe von Hominiden, die in Ostafrika vor drei bis vier Millionen Jahren aufgetreten sind und deren Fossilien das meiste geliefert haben für unser bisheriges Wissen über die frühesten menschlichen Vorfahren.
Ist also das neue Schädel-Fossil das eines Hominiden -- möglicherweise unser frühester bekannter Vorfahr?
"Es ist sehr schwierig, das mit Sicherheit zu behaupten, aber ich denke schon, dass es ein Hominide ist," sagte Lieberman. "Ob es jedoch der früheste Hominide an sich oder der früheste Vorfahr von allen heute Lebenden ist, können wir nicht sagen."
Michel Brunet von der Universität von Poitiers in Frankreich leitete das internationale Team von mehr als drei Dutzend Forschern. Man fand die Fossilien -- einen intakten Schädel, zwei Unterkiefer-Fragmente und einige Zähne -- an einem Grabungsort in der Djurab Wüste, wo die Gruppe seit Mitte der 1990er Jahre Grabungen durchgeführt hat. Die Forscher verglichen den alten Schädel und dazu gehörige Fossilien mit den bereits vorliegenden Fossilien vieler anderer bekannter Hominiden und Primaten. Auf der Basis von Eigenschaften wie der Zahnform und der Stärke des Zahnschmelzes, der Form und der Position des Kopfes sowie der Gesichtseigenschaften stellte das Team fest, dass das Geschöpf eine neue Klasse und Art von Hominiden darstellt. Sie nannten es offiziell Sahelanthropus Tchadensis. Sein Spitzname ist "Toumaë," ein Wort aus der Goran-Sprache mit der Bedeutung "Hoffnung des Lebens"; in der Wüste Djurab wird dieser Name solchen Neugeborenen gegeben, die kurz vor Beginn der trockenen Jahreszeit auf die Welt kommen. Das Team von Brunet fand den alten Schädel letztes Jahr und hoffte, den Fund geheim halten zu können, bis die wissenschaftlichen Untersuchungen vorgenommen werden konnten. Aber Gerüchte und kurze Berichte in den europäischen Zeitungen über die Entdeckung sorgten für helle Aufregung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft.
Die Entdeckung folgte einigen anderen in den letzten Jahren neu hinzu gekommenen fossilen Hominiden, die die Suche nach unseren menschlichen Vorfahren zeitlich erheblich nach hinten verschoben haben. Einige dieser Fossilien sind fast so alt wie jener Sahelanthropus.
Trotzdem halten Wissenschaftler den Schädel vom Tschad aus einer Anzahl von Gründen für herausragend, einschließlich seines Alters und seiner Vollständigkeit. Chris Stringer, Leiter der Gruppe Menschliche Ursprünge am Naturgeschichtemuseum von London, sagte, dass der Schädel neue Einblicke in eine Periode verspricht, nämlich das Obere Miozän, die für Paläoanthropologen weithin unbekannt gewesen war. "Es ist der einzige komplette Schädel, den wir aus diesem Zeitabschnitt haben," sagte er. "Wir haben Affenschädel aus Europa und Asien aus der Zeit vor acht bis neun Millionen Jahren, und in Afrika haben wir Schädel von menschlichen Verwandten gefunden, die vor drei bis vier Million Jahren lebten. Aber es gab kein gutes Schädelmaterial aus der Zeit dazwischen -- hier handelt es sich um den einzigen wirklich kompletten Schädel in dieser Fünf-Millionen-Jahres-Lücke."
Größere "Wiege der Menschheit"?
Bernard Wood, Henry R. Luce Professor für Menschliche Ursprünge in der Abteilung für Anthropologie an der George Washington Universität in Washington, D.C., sagte, der Fund "öffnet die Tür zu dieser erloschenen Welt vor sechs bis sieben Millionen Jahren, die entscheidend ist für unser Verständnis davon, welche Art von Geschöpfen uns mit dem Rest des Lebensbaums verbindet."
Die Wüstengegend im nördlichen Tschad, wo der Sahelanthropus gefunden wurde, liegt 1.500 Meilen (2.500 Kilometer) westlich vom afrikanischen Rift Valley. Der Ostteil des Rift Valley ist lange als die "Wiege der Menschheit" wegen der dort reichlich gefundenen hominiden Fossilien angesehen worden. Stringer denkt, dass wahrscheinlich noch viel mehr interessante menschliche Fossilien als Beweisstücke im westlichen und zentralen Afrika auftauchen werden, da die Wissenschaftler jetzt wissen, dass dort ein guter Platz zum Suchen ist. "Diese [Entdeckung] lässt uns erkennen, wie begrenzt unser Blick auf die menschliche Entwicklung war, weil wir uns bisher auf Ostafrika konzentriert haben," sagte er.
Das Rift Valley wurde lange Zeit mit früher menschlicher Entwicklung in Verbindung gebracht, weil viele Wissenschaftler glauben, dass die Öffnung des Rift [Riss, Spalte] vor Millionen von Jahren -- mit Dschungel zum Westen hin und Savanne oder Grasland zum Osten hin -- ein wichtiger Unterstützungsfaktor bei der Anpassung war.
Eine weit verbreitete Theorie behauptet, dass frühe menschliche Vorfahren Zweibeiner wurden -- also aufrecht gingen -- als sie aus Wäldern und Baumland heraus in die Savanne zogen. Vermutete Merkmale des neuen Hominiden passen mit dieser Ansicht nicht ganz überein.
Brunet glaubt, dass der Sahelanthropus zumindest zeitweise Zweibeiner war. Zudem haben sein Kollege Patrick Vignaud und andere Mitglieder des Forschungsteams ein Papier in der gleichen Ausgabe von Nature veröffentlicht, in dem aufgezeigt wird, dass die Umwelt an der Fundstelle der alten Schädel im Oberen Miozän aus See, Wald, Fluss und bewaldeter Savanne bestand. Das deutet darauf hin, dass Zweibeinigkeit sich unabhängig von der Wanderung in die Savannen entwickelt haben könnte, sagen die Forscher.
Die Region, in der Sahelanthropus sich aufhielt, wimmelte nach Ansicht von Brunet und seinen Kollegen von anderen Tieren. Seit 1994 haben sie Zehntausende von Wirbeltier-Fossilien auf dem Ausgrabungsgelände im nördlichen Tschad geborgen. Die fossilen Überreste repräsentierten 42 Arten, darunter Elefanten, Giraffen, Antilopen, Flusspferde, Krokodile, Eidechsen, Affen, Fische und Wildschweine.
Wo genau Sahelanthropus auf dem Stammbaum einzuordnen ist, kann man im Moment noch nicht feststellen. Trotz der ausführlichen Analyse und der veröffentlichten Behauptungen bleibt die Frage nach der Identität offen. Handelt es sich wirklich um einen neuen Hominiden oder nur um die Variante einer anderen, bereits zuvor identifizierten Art oder möglicherweise sogar um einen Affen? Einige Beobachter haben z.B. vorgeschlagen, dass Sahelanthropus wegen seiner kleinen Eckzähne ein weibliches Schimpanse sein könnte. Brunet war auf dem Grabungsfeld im Tschad und nicht erreichbar für einen Kommentar. In einem Interview mit einem Zeitungsreporter in Tschad sagte er jedoch: "Diese Augenbrauenkante ist stärker als bei einem männlichen Gorilla, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein weibliches Exemplar handelt, sehr gering." "Es ist ein Hominide," erklärte er.
Stringer sagte, solche Fragen in der Welt der Paläontologie sind immer kompliziert, weil Beweise normalerweise unvollständig sind und es wenig Übereinstimmung gibt darüber, welche Schlüsselmerkmale einen eindeutig menschlichen Vorfahren kennzeichnen. "Jeder hat seine Lieblingsvorstellung davon oder übernimmt, was frühe Mitglieder der menschlichen Entwicklungslinie kennzeichnen würde -- es ist eine Sache der Auslegung," sagte er. "Dieses Geschöpf könnte unser fehlender Vorfahr sein, es könnte auf der menschlichen Linie der Entwicklung liegen. Aber ich denke nicht, dass wir mit Sicherheit sagen können, dass es ein menschlicher Verwandter ist, oder nicht einmal, ob es männlich oder weiblich ist," sagte er. "Wir haben einfach nicht die eindeutigen Hinweise, um wissen zu können, wie die Vorfahren von Gorillas, von Schimpansen und von Menschen aussahen."
Brunet und seine Kollegen argumentieren, dass Alter und primitive anatomische Merkmale von Sahelanthropus vermuten lassen, dass er eng verbunden war mit dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen und er "daher wahrscheinlicher Vorfahr von allen jüngeren Hominiden ist."
Wissenschaftler glauben, dass die beiden Zweige der Primaten -- Affen und Menschen -- sich vor fünf bis acht Millionen Jahren getrennt haben und sich entlang unterschiedlicher Wege weiter entwickelt haben. Molekulare und DNA-Analysen während der letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass Menschen am nächsten mit den Schimpansen verwandt sind und etwa 98 Prozent ihres genetischen Materials teilen. Das bedeutet, dass sie einen gemeinsamen Vorfahren irgendwo entlang ihrer Entwicklungslinie besessen haben. Wood meint, dass Studien "der molekularen Uhr" zeigen, dass der hypothetische gemeinsame Vorfahr von modernen Menschen und Schimpansen vermutlich vor ungefähr fünf bis sieben Millionen Jahren lebte. Brunet sagte zu seiner neuen Fossilien-Entdeckung: "Hier sind wir nicht weit weg von der Trennung zwischen Schimpansen und Menschen. Der nächstliegende Schädel, den wir haben, ist auf vier Millionen Jahre später datiert, daher wissen wir nicht, was in der Zwischenzeit geschah. Aber mit diesem neuen Burschen und seiner Art haben wir die Anfänge neuer Erkenntnisse. Das ist gerade der Anfang unseres Wissens von der menschlichen Entwicklungslinie."
Nach Ansicht von Wood liegt die größte Bedeutung der Entdeckung von Sahelanthropus nicht darin, ob es sich um einen menschlichen Vorfahren handelt, sondern in den gebotenen Anhaltspunkten für die unerwartete Verschiedenartigkeit der alten versteinerten Hominiden. "Eine der wirklichen Überraschungen ist," sagte er, "welche erstaunliche Mischung von Anatomie dieses Geschöpf besitzt. Sie sagt uns, 'Hey, die Dinge sind viel verschiedenartiger als wir gedacht hatten'."
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